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Zur "Erklärung der Vielen"

Angesichts des schrecklichen Verbrechens in Hanau wurde kürzlich wieder an die sogenannte „Erklärung der Vielen“ (https://www.dievielen.de/erklaerungen/frankfurt/) erinnert — etwa auf der Internetseite der Oper Frankfurt. Hierbei handelt es sich um ein Bekenntnis zu einer von Pluralität und Toleranz geprägten Gesellschaft, das von einer großen Anzahl kultureller Institutionen in Frankfurt unterzeichnet wurde. Vergleichbare Aufrufe liegen auch für andere Städte vor, und wie diese basiert auch die Frankfurter auf einem in Berlin verfassten Text. Dies ist natürlich grundsätzlich eine löbliche Aktion, denn wie wird man ernsthaft etwas gegen Pluralität und Toleranz oder die anderen Thesen einwenden können! Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings die Frage, was genau mit diesem Bekenntnis erreicht werden soll.


Bei dieser Erklärung handelt es sich um eine Art Selbstverpflichtung der unterzeichnenden Institutionen, „Ausgrenzung und Abwertung anderer Menschen …keinen Raum“ geben zu wollen. Sie verpflichten sich ferner, sich allen Versuchen „entgegen“ zu stellen, die „historische Verantwortung“ für die Verbrechen des Nationalsozialismus „zu relativieren“. Außerdem wollen die Institutionen zur Veränderung der Gesellschaft „dadurch einen Beitrag leisten, dass unsere Angebote und Strukturen allen Menschen in unserer Stadt gleichermaßen offen stehen“. Sie wollen sich dabei an die Öffentlichkeit wenden und sich in ihrer Arbeit „an den erklärten Prinzipien“ orientieren. Ferner verpflichten sie sich zu „gegenseitiger Solidarität mit Kultureinrichtungen, die durch Hetze und Eingriffe … unter Druck geraten.“


So weit, so gut, allerdings ergeben sich die meisten dieser Bekenntnisse schon aus den geltenden Gesetzen dieser Republik, und es gibt keine wesentliche politische Gruppierung, die diese in Zweifel zieht. Anderes bleibt sehr vage, etwa wie im konkreten Fall die „Solidarität mit Kultureinrichtungen“ gestaltet werden soll. Sehr unangenehm in den Vordergrund tritt auch der ideologisch-verquaste Stil. „Frankfurt ist für uns auch die Stadt demokratischer Tradition und Toleranz, der künstlerischen Avantgarde und kritischen Theorie, des Buch- und Verlagswesens und einer diversen Stadtgesellschaft, die unser aller Zuhause ist.“ Ja, ganz gewiss, auf diese Themen kommen die meisten Menschen, wenn sie an Frankfurt denken (insbesondere natürlich, wenn man Kulturschaffender ist). Andere werden bei Frankfurt vielleicht auch an die durch mangelhaft organisierte Einwanderung bzw. Integration verursachten sozialen Probleme im Ostend, in Bonames oder am Frankfurter Berg erinnern. Aber jene wird man wohl darauf verweisen müssen, dass in der Erklärung soziale Probleme unter der euphemistischen Bezeichnung „diverse Stadtgesellschaft“ abgehandelt wird.


Wer wird dies also lesen? Hier kann man nur spekulieren, vielleicht der Asta der Universität oder das Seminar für Poststrukturalismustheorie, sofern es dieses Seminar gibt. Es spielt keine Rolle, denn sicher lässt sich eines sagen: Diejenigen, die man damit erreicht, sind ohnehin schon Bekehrte im Sinne der Vielen. Das ist übrigens auch die Schizophrenie so mancher Opern- oder Theaterinszenierungen der Unterzeichner. Die Heilsbotschaften, entsprechend derer man die zugrundeliegenden Stücke so stark modifiziert, treffen doch ganz überwiegend auf bereits Bekehrte! Und noch ein anderes kann man mit Gewissheit behaupten: Potentielle Gewalttäter wird man damit sicher nicht erreichen!


Auch die Menschen, die ernsthafte Probleme mit der von den Unterzeichnern so sehr herbeigesehnten pluralistischen Gesellschaft haben, etwa die Realschullehrerin, die angesichts der zu leistenden Integrationsaufgaben verzweifelt und der die Väter ihrer muslimischen Kinder noch nicht einmal die Hand schütteln wollen, da sich dies für sie als anständige Muslime nicht ziemt, der Polizist, der sich angesichts der Hoffnungslosigkeit in der Gewaltbekämpfung Parteien am rechten Flügel zuwenden, weil sie sie als einzige Partei empfinden, die ihre Sorgen noch ernst zu nehmen scheinen, werden diese Erklärung nicht lesen. Und falls doch, dann werden sie sich achselzuckend abwenden.


Merken die "Vielen" überhaupt noch, wie weit sie sich auch mit diesem Sprachstil selbst von den ihnen Wohlgesinnten entfernen? „Diese unsere demokratische und künstlerische Freiheit ist nicht ohne Widersprüche und ist niemals einfach.“ „Demokratie heißt, Zusammenleben immer wieder neu zu verhandeln.“ „Wir sind viele, jede*r Einzelne von uns.“ Dies soll neben dem bereits Angeführten einmal an Beispielen genügen. Gilt dieses Kauderwelsch in den Kreisen unserer Kulturschaffenden mittlerweile etwa als guter Stil? Wie kann man angesichts der inhärenten unfreiwilligen Komik nicht an den bekannten Sketch von Otto erinnert werden: Theo, vier alle fahren nach Lodz! (jeder einzelne…)


Dieser Sprachstil erinnert erstaunlicherweise sehr— die doch eher dem linken politischen Spektrum zuneigenden Kulturschaffenden werden es ungerne hören—an die inhaltsleere Sprache der großen internationalen Kapitalgesellschaften. Auch dort ist es Mode geworden, ethische und Verhaltensstandards in der alleredelsten Form zu kodifizieren. Und hier wie dort werden derartige Dokumente doch viel zu oft als moralischer Persilschein benutzt angesichts einer Realität, die partout nicht in Einklang mit den hohen Idealen gebracht werden kann. Benutzt wird dabei vornehmlich ein aus dem Englischen entlehntes Vokabular, das sich besonders gut eignet, um wohlklingende inhaltsleere Phrasen zu produzieren, etwa Begriffe wie Nachhaltigkeit, Transparenz, Out-of-the-box-thinking, committment, innovativ, zukunftsfähig etc. Besonders pfiffige Zeitgenossen haben irgendwann das Bullshit-Bingo-Spiel erfunden, bei dem derartige Begriffe in quadratischer Form angeordnet werden. Der Gewinner ist dann derjenige, der in einer Konferenz die meisten Begriffe markieren konnte. Auch bei dieser Erklärung der Vielen möchte man beständig BINGO rufen. Und selbstverständlich darf auch der Genderstern nicht fehlen, dessen überreiche Verwendung dieses Dokument endgültig zu einer Art Selbstparodie macht.


Nein, die Annahme, durch dieses Dokument jemanden von Rassismus, Homo- und Transphobie oder irgendwelchen anderen „ismen“ oder „Phobien“ abbringen wird, wäre völlig abwegig. Genauso gut könnte man ein Protestschreiben gegen das Covid-19-Virus verfassen! Es dient wohl auch ganz anderen Zwecken. Da ist vor allem das deutlich erkennbare Bestreben, sich selbst zu beweihräuchern (sehr wichtig ist es ja anscheinend auch, als „Erstunterzeichnende Institution“ gekennzeichnet zu werden) und die moralische Absolution zu erteilen, was wieder eine Parallele zu den von der Globalisierung profitierenden internationalen Wirtschaftsunternehmen darstellt. Denn wie diese schwimmen auch viele Kulturinstitute auf der Globalisierungswelle. Wie hoch ist der Anteil an Nichtdeutschen etwa im Ensemble der Oper Frankfurt? 50% oder 75%? Und funktioniert das nicht wunderbar? Ja, das tut es. Aber es ist eben keine Blaupause für die flächendeckende Integration von Asylanten und Wirtschaftsflüchtlingen in unserem Land, denn an der Oper in Frankfurt werden ausschließlich hoch- oder höchstbegabte Künstler angestellt. Die Gefahr, dass diese später einmal die Sozialsysteme belasten oder problematische Parallelgesellschaften ausbilden, ist minimal. Und viel anders ist auch nicht bei der Deutschen Bank, der Allianz oder bei SAP. Folglich sollte man tunlichst vermeiden, die Situation der Integration der vielen Asylanten und Wirtschaftsflüchtlinge in unserem Land zu beschönigen oder gar zu idealisieren — genauso, wie man selbstredend auf der anderen Seite vermeiden muss, eine verächtliche Sprache zu benutzen, die Einzelne herabwürdigt!


Es gibt sicherlich viele Gründe, die Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums kritisch zu sehen, aber an diese Erklärung zu erinnern angesichts der verabscheuenswürdigen Tat von Hanau, ist zumindest fragwürdig, ganz abgesehen davon, dass es offensichtlich die Tat eines völlig Geisteskranken war, der manifestiert hatte, die ganze Menschheit auslöschen zu wollen. Denn der erneute Appell zu diesem Zeitpunkt suggeriert, dass es vornehmlich die Benennung der aus einer unkontrollierten Emigration resultierenden sozialen Probleme ist, die zu solchen Gewalttaten führen kann, nicht aber die Schaffung der Rahmenbedingungen für diese Probleme und deren Tolerierung. Man mag hier einwenden, dass man keineswegs die reine Benennung der sozialen Probleme dafür verantwortlich mache, sondern deren Benennung in „populistischer“ Form. Was aber ist denn genau eine populistische Sprache? Und ist dies nicht genau der springende Punkt in der öffentlichen Debatte? Denn es sind doch nicht nur die gegensätzlichen Ansichten per se, die unser Land so sehr teilen, es sind doch auch die unterschiedlichen Sprachen, in der sie ausgedrückt werden. Besteht letztendlich nicht eines der Grundprobleme unseres Landes darin, dass wir die gemeinsame Sprachebene verloren haben, in der wir sinnvoll miteinander kommunizieren können? Wäre es folglich nicht die wichtigste Aufgabe, eine Sprache zu finden, die nicht als populistisch anzusehen wäre, eine Sprache, in der man die Probleme der eingangs geschilderten Realschullehrerin und des Polizisten schonungslos benennen kann ohne gleich als populistisch diffamiert zu werden? Und wäre es dann nicht die Aufgabe aller gesellschaftlicher Gruppen —mithin auch die der Kulturschaffenden—, diese Sprachebene wieder zu finden?


Der besprochene Aufruf leistet auch dazu keinen Beitrag. Er manifestiert eine Parallelwelt.

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