Von Doppeldenkenden und Doppelschwimmenden— Reflektionen aus dem Schwimmbad
Wie viele andere sehne auch ich mich oft nach der „alten“ Bundesrepublik zurück. Gab es die? Und wenn ja, wie war sie anders als die heutige? Schwierige Fragen, die hier nicht theoretisch erörtert werden sollen, denn dies hier soll nicht mehr als ein etwas zu lang gewordener Tagebucheintrag werden, der auf der Liegewiese eines Schwimmbades in einer nicht ganz bequemen Sitzposition verfasst wird. Oftmals genügt es Beispiele anzugeben, um etwas undeutlich Empfundenes zu bezeichnen. Man fühlt ja auch, dass es einen klaren Unterschied zwischen dem Traum und dem Wachzustand gibt, ohne diese Bereiche immer klar abgrenzen zu können. In Bezug auf die alte BRD könnte man vielleicht sagen, dass dort Sachverhalte weniger durch die moralisch-ideologische Brille blickend beurteilt wurden. Man führe sich nur vor Augen, wie berechenbar etwa der links-grün-orientierte öffentlich-rechtliche Rundfunk geworden ist. Wenn ein paar Corona-Demonstranten die Stufen des Reichstags besetzen, wird ein Weltuntergangsszenario herbeigeredet, die „rettenden“ Polizisten werden dabei zu Widerstandskämpfern verklärt! Es fehlte lediglich noch die Forderung nach einer Gedächtnisbriefmarke. Bei linken Gewaltexzessen, wie sie etwa in Friedrichshain oder Leipzig-Connewitz auf der Tagesordnung stehen, wendet man jedoch weitgehend den Blick ab. Und so zieht sich das Prinzip des von George Orwell in seinem Roman 1984 beschriebenen Doppeldenks beinahe durch jeden Aspekt der BRD. Weshalb gab es nur einen sehr verhaltenen Aufschrei, als ein Greenpeace-Fanatiker mit einem motorbetriebenen Gleitschirm in das Münchener Olympiastadium hineinsegelte und dabei Menschenleben gefährdete. Man male sich nur aus, was los gewesen wäre, wenn konservative Kreise eine solche Aktion veranstaltet hätten! Und wie wäre die Reaktion von Frau Merkel ausgefallen, wenn die Opfer des Anschlags von Würzburg Emigranten gewesen wären? Ganz sicher hätte sie nicht so beharrlich geschwiegen, wie sie es im Juni getan hat. Aber die Bevölkerung der BRD hat gelernt, auch dies achselzuckend hinzunehmen. Am härtesten trifft es oftmals die Mahner, welche die Entwicklungen in diesem Lande beschreiben und beklagen. Welche Schikanen muss etwa der ehemalige Fokus-Journalist Boris Reitschuster beinahe täglich erdulden, angefangen mit gesperrten Konten bis hin zu Hassmails! Auch diese (Meinungs-)Verdrängung gehört zum Prinzip des Doppeldenks. Vielleicht kann man den Unterschied zwischen der alten und der heutigen BRD auch auf folgende einfache Formel bringen: In der alten Republik las man dieses geniale Werk von George Orwell noch als einen gänzlich historischen Roman, den man mit den geschichtlichen Ereignissen in der Sowjetunion in Verbindung brachte, in der jetzigen BRD erscheint er aktuell.

Aber dies soll nicht das Thema dieser Notizen werden. Hier geht es um einen flüchtigen Augenblick des Abtauchens in eine zurückliegende Welt, die sich in die Gegenwart gerettet hat, nämlich die Welt des Schwimmbades. Denn sieht man einmal von den digitalen Lesegeräten an den Eingängen ab und klammert die Frage aus, wie man den Begriff Bademeister gendert, unterscheidet sich ein Besuch in einem Freibad wenig von einem Besuch etwa im Jahr 1975. Durch die durch Corona bedingten Zugangsbeschränkungen bzw. die daraus resultierende Leere ergibt sich zudem eine Atmosphäre der Entspanntheit, die förderlich ist für das Sinnieren über diese Zusammenhänge und die Mitbadenden. Dabei treten zwar einige neue Figuren zu den Dramatis personae hinzu, ohne jedoch das nostalgische Gesamtbild stark zu beeinträchtigen.
Neu sind etwa die rein auf Leistung getrimmten Schwimmer. Es sind wenige. Sie ziehen einsam ihre Bahnen, um ihrem Fitnessfetisch zu frönen. Man erkennt sie schon an ihrer professionellen Ausstattung, die in der Regel aus einem Ganzkörperanzug, einer Badekappe und einer Taucherbrille besteht. Sie haben ihre Seele dem Leistungsprinzip verschrieben. Der Blick auf ihr Mobilfunkgerät und das hastige Tippen von Nachrichten nach der sportlichen Betätigung lässt vermuten, dass es sich um Controller oder Projektmanager in einem Finanz- oder Beratungsunternehmen handelt. Die Absicht, die Fitness zu steigern, steht im Einklang mit den Prinzipien solcher Unternehmen, zumal wenn sie mit dem Ziel, irgendeinen Triathlon oder einen vergleichbaren sportlichen „Event“ (etwas, was zu attraktiven Einträgen auf Instagram führt) zu bestreiten, verbunden wird. Trainiert man für den New Yorker Marathon, dann wird dies von den Kollegen äußerst verständnisvoll betrachtet. Niemand von den Achievern oder High potentials würde wohl einfach so morgens schwimmen gehen, außer natürlich die „Looser“.
Abgesehen von diesem Typus dominieren jedoch die Rollen, die sich nicht wesentlich von denen aus der Vergangenheit unterscheiden. Es gibt die tobenden Kinder, die begeistert aber ungelenk vom Sprungbrett springen, es gibt die Familien, die halbe Tage im Bad verbringen. Gehalten bis zum heutigen Tage hat sich etwa das „Schwimmdoppel“. Dabei handelt es sich immer um Frauen, häufig jenseits der 50 —nie um Männer! Langsam schwimmen sie ihre Bahnen, wobei oftmals eine von ihnen rückwärts schwimmt, um so eine optimale Konstellation für den eigentlichen Zweck der sportlichen Aktivität zu realisieren: das Führen eines nicht abreißenden Gesprächsflusses. Dabei bewegen sie sich zumeist im Schneckentempo vorwärts, viel zu langsam, als dass dieser Geleitzug jemandem, der hinter ihnen schwimmt, als Bollwerk vor anderen Schwimmern dienen könnte. Begegnet man einem solchen Paar muss man also immer mühsam um es herumschwimmen. Dabei schnappt man auf jeder Bahn Bruchstücke ihrer Unterhaltung auf. „Ich koche jetzt mittags oftmals Dorade, um mal etwas runter zu kommen!“ — „Oh, Dorade kenne ich, das hat meine Mutter immer gemacht!“ Schon ist man weiter, und nie wird man erfahren, wovon die erste Dame runterkommen musste und was die Mutter bewogen hat, die früher eher selten in deutschen Fischgeschäften vorkommende Dorade zu verwenden.“ Und warum soll ausgerechnet Dorade besonders geeignet sein, um diesen Entspannungseffekt zu erzielen? Ist man eine Bahn weiter, dann läuft schon ein anderes Thema. „Zu diesem Geburtstag werde ich nicht gehen.“ — „Mit Paul werde ich heute Abend am Telefon sprechen, um…“; und schon ist man wieder weiter. Es handelt sich also um alltägliche Themen, die in einem Strom von Gedanken, der wohl zu Katharsis-Zwecken beinahe ohne Unterbrechung ausgeströmt wird, mit vielen rhetorischen Finessen. Sehr beliebt ist beispielsweise das Stilmittel der direkten Rede. „‘Ne‘, sage ich da zu ihm, ‚das muss ich mir aber noch überlegen.‘ Dabei gibt es zwei grundsätzliche Konstellationen zu beobachten. Die häufigste Variante scheint die zu sein, bei der eine der Damen die dominantere ist. Sie verbindet die Fülle der Themen oftmals in durchaus geschickter Weise durch Überleitungssätze oder Ankündigungen, durch die der Spannungsbogen stetig aufrechterhalten wird, und zwar gerade an den Stellen, an denen ihre Partnerin vielleicht Hoffnung schöpfen könnte, auch einmal zu Wort zu kommen. Häufig geschieht dies, indem mit einer Konjunktion elegant zu einem anderen Thema weitergleitet wird. Ein Zauberwort ist das Pronominaladverb „wobei“, wobei es in einem solchen Kontext eher als eine Art Konjunktion verwendet wird, mit der zwei ganz entlegene Aussagen miteinander in geschickter Weise verbunden werden, also z.B. wie in: „Und so ging dann die Vase zu Bruch, die ich von Tante Käthe bekommen habe, wobei die ja jetzt Wasser in den Beinen hat…“ Oder ganz virtuos: „Und so ging dann die Vase zu Bruch, wobei: Und jetzt kommt es!“ (gemeint ist das noch Berichtenswertere, wobei eigentlich in einem solchen Bewusstseinsstrom alles gleichbedeutend ist). Noch virtuoser: „wobei: Pass auf, das Beste habe ich dir ja noch gar nicht erzählt!“. Künstlerinnen dieses Metiers schaffen es, ihre Partnerin eine ganze Stunde lang nicht zu Wort kommen zu lassen.

Dann wäre da noch die Rolle des Bademeisters. Auch diese hat sich in all den Jahrzehnten kaum geändert. Für gewöhnlich lümmelt er irgendwo am Beckenrand herum, so als würde ihn der ganze Trubel überhaupt nichts angehen. Aber dann erwacht er doch ganz unerwartet zum Leben, was sich in der Regel durch einen durchdringenden Pfiff seiner Pfeife bemerkbar macht. Dass diese grobe Signalgebung von der woken Community noch nicht als irgendwie rassistisch oder als Verhöhnung von irgendeiner mikroskopisch kleinen Gesellschaftsgruppe (etwa den Pfeiftontraumatisierten?) eingestuft wurde, grenzt an ein Wunder! Man würde erwarten, dass die Grünen die Bademeister schon längst gezwungen hätten, einen Gong oder ein Xylophon zu verwenden! Für gewöhnlich wird dann eine Gruppe von Kindern (zumeist Jungen) zurechtgestaucht, die sich in einem verbotenen Bereich bewegen oder vom Beckenseitenrand ins Wasser springen. Nein, Humor, Sensibilität sind keine essentiellen Voraussetzungen für diesen Beruf, waren es noch nie. Die Corona-Auflagen haben die Charakteristika dieser Berufsgruppe sogar noch stärker herausgehoben. Im Eingangsbereich des Schwimmbads, das der Autor dieser Zeilen gelegentlich frequentiert, —der wohlgemerkt im Freien liegt— soll Maske getragen werden. Oh, was bekommt man da zu hören, wenn man dies einmal vergisst—auch bei schlechtem Wetter, wenn der Andrang minimal ist und man sich auch theoretisch nicht anstecken kann. Aber der Kerberos der Wasserwelten kennt keine Gnade und kein Pardo Doch irgendwie freue ich mich sogar über den Anschiss. Denn für einen Moment überkommt mich die Anwandlung, in jener BRD zu leben, die noch nicht jedes Maß und so manche Werte verloren hatte. Und dann bin ich schon gespannt, welchem Schwimmdoppel ich wohl heute begegnen werde!