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Moralweltmarktführer Deutschland

Einer der interessanteren Aspekte der aktuellen Virus-Krise ist die Form, in der sich Politiker unterschiedlicher Nationen an ihr Volk wenden. Sebastian Kurz etwa, der österreichische Bundeskanzler, spricht seine Landsleute durchweg als „Österreicher und Österreicherinnen“ an, und Emanuel Macron adressiert seine Landsleute selbstverständlich in analoger Weise. Als Deutschem fährt einem dabei immer ein Schauder über den Rücken, denn kaum einer der Politiker der Bundesrepublik würde eine vergleichbare Terminologie verwenden. So wäre es undenkbar, dass Herr Steinmeier oder Frau Merkel eine Rede mit der Ansprache „Liebe Deutsche“ beginnen würde (obwohl diese knappe Ansprache sogar den Ansprüchen des Gender Mainstreamings entsprechen würde). In diesem Land lautet die übliche Anrede schlicht „Liebe Mitbürger, liebe Mitbürgerinnen“. Man vermeidet diesen lästigen Begriff „deutsch“ weitgehend, ebenso wie man jedwede Symbolik vermeidet, die darauf zielte, diesem Land eine spezifisch deutsche Identität zu geben. Neben der aus dem dritten Reich resultierenden Schuld verbirgt sich dahinter wohl das Bewusstsein, dass eine wachsende Gruppe in unserem Lande mit einer deutschen Tradition wenig am Hut hat und viele davon sogar den Staat mit seiner freiheitlichen Grundordnung ablehnen.


Der Autor dieser Zeilen ist sich durchaus bewusst, welchen Risiken er sich mit einem Text, der die Vokabeln Volk und Deutsch problematisiert, aussetzt. Dies ist in Deutschland riskant, und schnell wird man in die rechte Ecke geschoben, in der man dem Vorwurf der „Deutschtümelei“ oder des „Völkischen“ ausgesetzt wird. Zwar könnte man nun einwenden, dass diese Kampfbegriffe von denen, die sie verwenden, für gewöhnlich sehr unscharf definiert werden. Die traurige Realität ist jedoch, dass in der Regel bereits die bloße Thematisierung als völkisch oder deutschtümelnd diffamiert wird. Die Diffamierenden operieren dabei eigentlich nicht mehr auf einer inhaltlichen Ebene, sondern auf einer Meta-Sprachebene, in der die Begriffe eher ein konspiratives Gefühl ausdrücken, und sie unterstellen zu Unrecht, dass das Nachdenken über die deutsche Identität immer etwas Verbortes, Ausgrenzendes oder gar Rassistisches beinhalten müsse. Man lese nur einmal den großen Essay von Thomas Mann „Leiden und Größe Richard Wagners“, in dem er das Deutschtum Wagners als „mit europäischer Artistik durchtränkt“ sieht, und ihn so gegen „Versimpelung“ in Schutz nimmt.


Blickt man zurück, so wird man konstatieren müssen, dass es in den Siebzigern und Achtzigern noch durchaus üblich war, etwa von der „deutschen Frage“ zu sprechen. Man meinte damit das Bestreben, die beiden deutschen Staaten wieder zu vereinen. Auch war die Formulierung „deutsche Interessen“ noch ein durchaus gängiger Begriff in der politischen Debatte. Solche Termini wird man heute nicht mehr verwenden können, es sei denn man plane den politischen Selbstmord. Allenfalls Herr Gauland verwendet sie noch. Irgendwann sind sie aus der Mode gekommen, da sie von der nun politisch korrekten Wortgruppe um den Begriff „Europa“ verdrängt wurden, wie man auch aufhörte vom deutschen Michel zu sprechen oder im Fußball von den „deutschen Tugenden“, womit man den ausgeprägten Kampfgeist und den Einsatz bis zur buchstäblichen letzten Minute des Spieles bezeichnen wollte (weniger die Spielkunst).


Es scheint so, als wäre uns der Begriff „deutsch“ seitdem zwischen den Fingern zerronnen. Noch die Eltern des Autors dieses Textes hätten über diese Aussage verwundert den Kopf geschüttelt, auch wenn sie wohl nicht hätten zu Papier bringen können, was dieses „Deutschsein“ für sie eigentlich genau bedeutete. Sie hätten es einfach so empfunden, auch wenn sie aufgrund der Launen der Geschichte gar nicht in Deutschland geboren wurden. Je mehr man diesen Begriff problematisiert hat, desto weiter hat man sich davon entfernt. Jetzt stehen wir mit leeren Händen da und verweisen auf Europa und die globalisierte Welt. Vielleicht trifft auch hier mutatis mutandis zu, was Heinrich von Kleist in seiner Schrift über das Marionettentheater ausführt. Dort wird behauptet, dass sich die (tänzerische) Grazie in dem Menschen am reinsten zeige, der „entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat.“ Vielleicht müssen auch die Deutschen durch einen unendlichen Lernprozess schreiten, um zu ermessen, was dieses Deutschtum auch im Positiven einst bedeutet hat. Vermutlich wird es dann zu spät sein, um an dieses Positive anzuknüpfen.


Mittlerweile schämen wir uns des Begriffs „deutsch“ wohl auch ein wenig. Sinnbildlich dafür ist die Szene in der Wahlkampffeier der CDU 2013, als Bundeskanzlerin Merkel die Deutschlandfahne, die ihr ihr Minister Hermann Gröhe in die Hand gedrückt hatte, sichtlich angewidert zur Seite warf, etwa so, als hätte man ihr den schwarzen Peter untergeschoben. Im Hintergrund lief dazu ein Lied der Toten Hosen… Der schon als nächster Bundeskanzler gehandelte Robert Habeck lässt es bei solchen symbolischen Gesten nicht bewenden. Er formuliert ganz unverhohlen: „Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland noch nie etwas anzufangen und weiß es bis heute nicht.“ (nachzulesen in seinem Buch „Patriotismus – Ein linkes Plädoyer“).


Nach langen ermüdenden Debatten über die Frage, was denn eigentlich „deutsch“ sei, ob man eine Leitkultur definieren soll, eine Art Zielbild für unsere Gesellschaft zur Beantwortung der Frage: „Wie soll dieser Staat kulturell in einigen Jahrzehnten aussehen?“ sind wir nun mit einer gespaltenen Gesellschaft konfrontiert. Dabei haben sich zwei Lager gebildet. Das eine, nennen wir sie das linke Lager, lehnt im Grunde jede Diskussion über kulturelle Zielbilder für die Bundesrepublik ab. Stark vereinfacht gesprochen lauter dieser Standpunkt: In 20 oder 30 Jahren ist Deutschland eben das Resultat aus den bis dahin sich in einem mehr oder weniger ungesteuerten Prozess ergebenen gesellschaftlichen Veränderungen, völlig unabhängig auch davon, wie sich etwa die aus der miserabel verwalteten Einwanderung resultierenden kulturellen Veränderungen in diesen Jahren entfalten. Häufig wird vorgebracht, dass doch alles im Grundgesetzt kodifiziert sei und dieses Geltung behalten werde. Hier sind allerdings gleich zwei Denkfehler enthalten. Zum einen lassen sich nicht alle kulturellen Konventionen in einer Verfassung verankern, sei sie auch noch so detailliert, zum anderen unterliegt auch das Grundgesetz Veränderungen (auch entsprechend der Einwanderung resultierenden demographischen Entwicklung), sodass es eben nicht als eine Art Bollwerk gegen (auch für die „Linken“ ungewünschte) gesellschaftliche Veränderungen angesehen werden kann.

Das andere Lager, das „rechte“, betrachtet eine solche Offenheit gegenüber kulturellen Veränderungen als unverantwortlich und versucht — wiederum grob gesprochen— die Begriffe „deutsch“, „deutsches Volk“ mit einer ausgrenzenden Definition bzw. einem Wesenskern (Leitbild) zu versehen. Jedweder Versuch in diese Richtung wird von den „Linken“ mittlerweile —wie bereits angemerkt— als völkisch, rassistisch oder gar als faschistisch denunziert. Beide Lager stehen sich gänzlich unversöhnlich gegenüber, das Resultat ist bekanntlich eine völlige Polarisierung der politischen Landschaft. Damit einher geht auch der Verlust einer gemeinsamen Sprachebene, sodass der Diskurs häufig nicht mehr die Substanz der Dinge betrifft, sondern sich um Attribute dreht („das ist ja AFD Sprech!“), deren Verwendung schlichtweg den Zweck hat, die jeweilige Gegenseite unter Vermeidung einer inhaltlichen Diskussion zu diskreditieren.


Und so verwenden die führenden Politiker die spezifisch „deutschen“ Begriffe nur sehr ungerne bzw. nur noch in ganz bestimmten Zusammenhängen, dem Zwang der Political Correctness folgend: „es ist die besondere Verantwortung der Deutschen…“, „gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte“, „das deutsche Volk stellt sich seiner Verantwortung“. Frau Merkel ist erneut das beste Beispiel für diesen Sprachgebrauch.


Im Duden wird „Deutschtum“ in einigen Jahren wohl als ein antiquierter Begriff geführt werden, der nur noch in festen Formulierungen im Zusammenhang mit kollektiver Schuld und Verantwortung auftaucht, auf einer Ebene mit den Ausdrücken „Gassi“, „Schlosshund“ oder „Geduldsfaden“. Auch diese Begriffe werden nur noch in bestimmten festen Formulierungen benutzt. So wie wir „Gassi gehen“ und wie ein Schlosshund heulen können und wie uns der Geduldsfaden reißen kann, sprechen wir dann nur noch von der „deutschen Schuld“ und der „deutschen Verantwortung“. Es spielt dann keine Rolle mehr, wie der Begriff „Deutschtum“ zu verstehen ist, wir wissen ja auch nicht was „Gassi“ oder ein Geduldsfaden ist.


Und irgendwann wird man wohl auch von diesen Formeln keinen Gebrauch mehr machen. Dann wird sich der Begriff „deutsch“ erledigt haben und – ähnlich wie der Begriff preußisch —nur noch in Geschichtsbüchern und Museen vorkommen. In Ostdeutschland war man schon einmal fast so weit. Dieser Staat zog es bekanntlich vor, „DDR“ genannt werden, und wenn es sich nicht vermeiden ließ, den vollständigen Namen des Landes zu nennen, wurde das „deutsche“ in „Deutsche Demokratische Republik“ schnell weggenuschelt. Viele werden dies schrecklich finden, andere werden jubeln. Wiederum andere, die der gegenwärtigen Entwicklung gleichgültig gegenüberstehen, werden sich aber dann vielleicht doch erstaunt die Augen reiben.


Es steht zu vermuten, dass wir diesen Prozess wieder mit der gleichen Verbissenheit vorantreiben, wie wir schon den totalen Krieg und dessen geschichtliche Aufarbeitung, die Willkommenskultur 2015, den Klimawandel, das Gender-Mainstreaming und aktuell die Corona-Krise betrieben haben bzw. betreiben und dabei auf andere Nationen (etwa die Višegrad-Staaten in der Flüchtlingskrise) als Moralapostel herabsehen, die unseren ach so gut gemeinten Fanatismus nicht teilen. Die aktuelle Virus-Krise bietet ein gutes Beispiel für diese herablassende Arroganz. Die Bundesregierung setzt so ziemlich alle wesentlichen Grundrechte außer Kraft, und das Parlament dient nur dazu, diese Maßnahmen abzunicken. Die Ungarn aber werden an den Pranger gestellt, weil die Regierung Orban mit einer Notstandsgesetzgebung die Kontrolle durch demokratische Institutionen vorübergehend aussetzt. Hier geht es nicht darum, Orban, gegen den man in der Tat einiges einwenden kann, zu verteidigen. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der wir über andere richten und uns selber — wie schon in der Flüchtlingskrise, dem Atomausstieg und anderen Ereignissen — die moralische Absolution erteilen, die hier herausgestellt werden soll. Die Schweden werden wiederum beargwöhnt, weil sie es wagen, hinter unseren restriktiven Maßnahmen zurückbleiben. Jede negative Nachricht aus diesem Land wird begierig in diese Richtung gedeutet, obwohl die dortigen Werte im europäischen Vergleich nicht einmal schlecht sind. Man spürt förmlich, wie viele Leitmedien und Corona-Deuter (allen voran der narzisstische Karl Lauterbach) auf das Scheitern des schwedischen Ansatzes warten, um wieder den moralischen Zeigefinger erheben zu können. Dabei setzt die schwedische Regierung lediglich auf die Eigenverantwortlichkeit mündiger Bürger. Aufklärung, Vernunft als Urteilsinstanz: weitere Begriffe, die wohl in Vergessenheit geraten sind…


Was immer diese Nation anpackt, am Ende scheinen immer die gleichen Wesenszüge zum Vorschein zu kommen. Dabei ist es geradezu tragisch, wie sie oftmals das Gegenteil von dem erreicht, was sie anstrebt. Auch die gut gemeinte Eurorettung hat die Ressentiments gegen die moralisierenden deutschen Oberlehrer nur verstärkt, sodass uns das Attribut „deutsch“, dessen wir uns ja so sehr genieren, in vielen Ländern nur umso unablöslicher als Schmähbegriff anhaftet. Ja, selbst die „Lockerheit“, die wir uns so gerne zuschreiben würden, betreiben wir mit einer ziemlichen Verbissenheit, wie von vielen angemerkt wird, die uns nicht unbedingt wohlgesinnt sind. Man denke nur an die äußerst skurrilen Begrüßungsszenen im Jahre 2015, als am Münchner Hauptbahnhof Flüchtlinge in Empfang genommen wurden, die angesichts der enthusiasmierten fahnenwedelnden Massen den Eindruck gewinnen mussten, in einem Tollhaus angekommen zu sein. Wäre es nicht auch tragisch, wenn von allem „Deutschtum“ am Ende nur diese uns so verhassten Eigenschaften übrigblieben?

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